Die Elektrische Gitarre ist verstimmt!

Gi­tar­ren­bau­er kri­seln, die Ju­gend hört Hip-Hop und Elec­tro und es man­gelt an Vor­bil­dern – ein Nach­ruf auf Stra­to­cas­ter & Co.

„Ju­das!“ hall­te ein ein­zel­ner Ruf durch die „Free Tra­de Hall“ in Man­ches­ter. Es war der 17. Mai 1966, auf der Büh­ne stand Bob Dy­lan, der den Ruf ver­nahm und sei­ner Band The Hawks an­sag­te, wie der nächs­te Song „Li­ke A Rol­ling Sto­ne“ zu klin­gen hat­te: „Spielt ver­flucht laut!“

„Ju­das!“, das war das ver­zwei­fel­te Auf­bäu­men ge­gen ei­ne Zei­ten­wen­de. Seit dem „New­port Folk Fes­ti­val“ 1965 griff Dy­lan bei sei­nen Kon­zer­ten ver­mehrt zur Elek­tri­schen Gi­tar­re, zum Un­mut vie­ler Folk-Pu­ris­ten, die dem be­gna­de­ten Song­dich­ter schlicht Ver­rat vor­war­fen. Aber den Sie­ges­zug der Elek­tri­schen konn­ten sie nicht auf­hal­ten. 1966, das war das Jahr, in dem sich Eric Clap­ton, Jack Bru­ce und Gin­ger Baker zu Cream for­mier­ten. The Who und The Rol­ling Sto­nes, The Kinks oder The Yard­birds ga­ben die Tö­ne an, und sie wa­ren laut. Keith Ri­chards, Ray Da­vies, Pe­te Town­s­hend, Jim­my Pa­ge, Ge­or­ge Har­ri­son und Jeff Beck wur­den zu Ido­len, wäh­rend im Sep­tem­ber 1966 in Lon­don die Ji­mi Hen­d­rix Ex­pe­ri­ence ge­grün­det wur­de. Die Pop­ge­schich­te über­d­röhn­te den re­ak­tio­nä­ren „Ju­das“-Ruf mit Riffs, Ak­kor­den, Feed­backs und Pi­ckings aus Ge­rä­ten, die so be­rühmt wur­den wie die Män­ner (und lei­der viel zu we­nig Frau­en wie Li­ta Ford, Nan­cy Wil­son oder Jen­ni­fer Bat­ten) die sie be­dien­ten: Fen­der Stra­to­cas­ter, Gib­son Les Paul, Ri­cken­ba­cker C63, Gretsch 6120

Als Chuck Ber­ry in den 50ern auf sei­ner Gib­son den Rock’n’Roll ent­fach­te, wur­de die Elek­tri­sche Gi­tar­re Zünd­fun­ke für mu­si­ka­li­sche Re­vo­lu­tio­nen und Re­vol­ten. Beat und Blues­rock in den 60ern, Hard­rock, Krau­t­rock, Glam, Psy­che­de­lic und Punk in den 70ern, Hard­core, New Wa­ve und Hea­vy Me­tal in den 80ern, Grun­ge und Cross­over in den 90ern. Selbst Dis­co war ei­gent­lich un­denk­bar oh­ne die klin­geln­den Sai­ten von Ni­le Rod­gers (Chic), Prin­ce war nicht nur Funk-Sän­ger, son­dern auch noch ein fan­tas­ti­scher Sai­ten­bie­ger.

Die Elek­tri­sche Gi­tar­re ver­ein­te Phal­lus- und Sta­tus­sym­bol

Auch Amy Wi­ne­hou­se lieb­te es, ih­ren Soul mit der Stra­to­cas­ter zu be­glei­ten, „es ist, als hät­te ich ei­nen Schwanz“, sag­te sie 2004 bei ei­nem Ga­la-Kon­zert in Lon­don zum 50. Ge­burts­tag der „Strat“. Im­mer, wenn ihr gro­ßer Bru­der au­ßer Haus war, spiel­te sie stun­den­lang heim­lich auf sei­ner un­an­tast­ba­ren, ab­ge­lieb­ten Stra­to­cas­ter aus vier­ter Hand. Die Gi­tar­re ver­ein­te Phal­lus- und Sta­tus­sym­bol, Trieb­fe­der und Traum, Mil­lio­nen Teen­ager stan­den zu­erst mit dem Ten­nis­schlä­ger vor dem Spie­gel, um dann be­geis­tert im Gi­tar­ren­la­den ers­te stüm­per­haf­te Tö­ne aus bil­li­gen Ja­pan-Ko­pi­en be­rühm­ter Vor­bil­der zu lo­cken, wäh­rend der La­den­be­sit­zer au­gen­rol­lend auf das Schild an der Wand zeig­te: „Kein ,Stair­way To Hea­ven‘, kein Me­tal­li­ca, kein Nir­va­na!“

Aber ir­gend­wann kipp­te das Image der Elek­tri­schen Gi­tar­re. Sie ist gest­rig, un­cool und so un­se­xy und muf­fig wie ei­ne auf dem Lam­pen­schirm trock­nen­de Ten­nis­so­cke. Liest man sich durch Ma­ga­zi­ne und Blogs der letz­ten Zeit, fin­det man Ab­ge­sang auf Ab­ge­sang. Gi­tar­ren­bau­er Gib­son hat in den ver­gan­ge­nen Jah­ren durch die Über­nah­me der Phi­lips-Un­ter­hal­tungs­spar­te und wei­te­re Zu­käu­fe so­wie sin­ken­de Um­sät­ze Ver­bind­lich­kei­ten von 500 Mil­lio­nen Dol­lar an­ge­häuft und steht laut Ana­lys­ten wie der Ra­ting­agen­tur „Moo­dy’s“ nach 116 Jah­ren vor der Zah­lungs­un­fä­hig­keit. Bis Ju­li und Au­gust müs­sen Kre­di­te re­fi­nan­ziert wer­den, und das in ei­ner Zeit, in der der jähr­li­che Ab­satz von E-Gi­tar­ren in den USA in­ner­halb von nur ei­ner De­ka­de von 1,5 Mil­lio­nen auf 1 Mil­li­on ein­ge­bro­chen ist. Vor we­ni­gen Ta­gen ver­klag­te auch noch die Ham­bur­ger Fir­ma Tro­ni­cal, füh­rend bei der Ent­wick­lung selbst­stim­men­der Sys­te­me für Gi­tar­ren, Gib­son auf 50 Mil­lio­nen US-Dol­lar im Streit um Li­zenz­ge­büh­ren und Ver­trags­ver­let­zun­gen.

Nicht nur Gib­son, son­dern auch Fen­der oder PRS ste­cken in der Kri­se, wie die „Wa­shing­ton Post“ in ei­nem Ar­ti­kel zu­sam­men­fass­te: „Viel­leicht ist die Zeit der Gi­tar­re vor­bei“, kom­men­tier­te Eric Clap­ton die Zah­len, und Paul Mc­Cart­ney ana­ly­sier­te: „Jetzt ist elek­tro­ni­sche Mu­sik an­ge­sagt, die Kids hö­ren an­ders, und sie ha­ben nicht mehr die Gi­tar­ren­-Hel­den, die wir hat­ten.“

Die Hel­den von heu­te sind Su­per­stars wie DJ Da­vid Guetta, die die Mas­se nicht mehr mit fet­ten Riffs und eit­len So­lo-Es­ka­pa­den ver­zü­cken, son­dern mit viel Brim­bo­ri­um die „Start“- und „Stop“-Icons auf dem Lap­top be­die­nen und viel­leicht um der Show wil­len dann und wann ein Knöp­chen leicht nach links oder rechts dre­hen. R’n’B-Chan­teu­sen und Rap­per, Beat­bast­ler und Pop-Pro­du­zen­ten wie Beyoncé, Jay Z, Ri­han­na, Tim­ba­land oder Ro­bin Schulz sind die Herz­schritt­ma­cher der Pop­mu­sik. Aber Elek­tri­sche Gi­tar­ren brau­chen sie nicht mehr, und wenn, dann aus dem Klang­bau­kas­ten des Rech­ners. Auch da­für braucht man Ta­lent und Mu­si­ka­li­tät, aber ein Rech­ner ist al­les, nur kein Sym­bol für mu­si­ka­li­sche Hal­tung oder Vir­tuo­si­tät – oder ein über­steu­er­tes Ego.

Na­tür­lich gibt es im­mer noch Rock­bands, die größ­te Hal­len und Sta­di­en fül­len. Me­tal­li­ca, Foo Figh­ters, Rammstein, Mu­se, AC/DC und na­tür­lich die Sto­nes. Ganz zu schwei­gen von der Me­tal­sze­ne, die Gi­tar­ren braucht wie die Luft zum At­men und Bier. Punk ist nie tot, ge­rockt wird im­mer. Aber sind groß­ar­ti­ge Gi­tar­ris­ten und Sai­ten­he­xe­rin­nen wie Joe Bo­na­mas­sa, John May­er, Ni­ta Strauss, Ori­an­thi oder Whit­ney Pet­ty noch Na­men, die wie Clap­ton oder Hen­d­rix noch gan­zen Ge­ne­ra­tio­nen ge­läu­fig sein wer­den?

Die Pop­mu­sik wird zu­neh­mend non­phy­si­ka­lisch, und das gilt nicht nur für die Ton­trä­ger, son­dern auch für die In­stru­men­te. In den Top 100 der deut­schen Sin­gle- und Strea­m­ing­charts muss man lan­ge nach der E-Gi­tar­re su­chen und fin­det sie nur in „Zu­sam­men“ von den Fan­tas­ti­schen Vier. Bei den Re­tro-Mu­sik­hö­rern, sprich in den Vi­nyl­charts hin­ge­gen do­mi­niert sie die Top Ten mit den üb­li­chen Ver­däch­ti­gen: Ju­das Priest, Ji­mi Hen­d­rix, Led Zep­pe­lin, Night­wish, Arch En­e­my, Jack Whi­te und an der Spit­ze: Frei.Wild. Autsch.

Aber der ak­tu­el­le Pop-Zeit­geist macht sich frei von Sym­bo­len und Ri­tua­len wie der Vi­nyl-Schall­plat­te, der CD, der Gi­tar­re. Zu­min­dest der Elek­tri­schen Gi­tar­re. Denn zeit­gleich mit dem Trend zu Elec­tro und Hip-Hop wuchs die Sehn­sucht nach neu­er Na­tür­lich­keit, nach un­ge­küns­tel­tem, rei­nem Ge­fühl und Klang. In die­sem Som­mer steht Ed Shee­ran vor 60.000 Fans auf der Bah­ren­fel­der Trab­renn­bahn mit sei­ner Wes­tern­klamp­fe auf der Büh­ne und be­geis­tert die Mas­sen. Er ist zu­sam­men mit Tay­lor Swift die Spit­ze des Eis­bergs von Tau­sen­den Jungs und Mäd­chen mit Akus­ti­scher Gi­tar­re, die land­auf, land­ab die Clubs und Büh­nen, Strea­m­ing-Play­lis­ten und Charts be­völ­kern. Die bei Kü­chen­par­tys und an Strän­den in der Run­de sit­zend ver­träumt an Darm­sai­ten zup­fen, gu­te Mie­ne zu ro­man­ti­scher Min­ne ma­chend. Ji­mi Hen­d­rix zer­fetz­te in „Wood­stock“ das „Star-Span­g­led Ban­ner“ mit sei­ner Stra­to­cas­ter, Tom Mo­rel­lo ließ bei Ra­ge Against The Ma­chi­ne sei­nen Ei­gen­bau na­mens „Arm The Home­l­ess“ ge­gen Hun­ger, Krieg und Ka­pi­ta­lis­mus krei­schen und jam­mern. Aber die Akus­tik-Pop-Ge­ne­ra­ti­on von heu­te will nur noch Her­zen bre­chen, bis zum Er­bre­chen. Seit 2010 über­stei­gen die Ver­käu­fe von Akus­ti­schen Gi­tar­ren die der Elek­tri­schen.

Akus­tik-Tour­ne­en ge­hö­ren zum Stan­dard­pro­gramm

Akus­tik-Ses­si­ons sind ab­so­lut en vogue. Im Klei­nen wie bei Kon­zert­rei­hen wie „Knust Acoustics“ oder „Ham­bur­ger Kü­chen­ses­si­ons“ wie im Gro­ßen: Man muss sich als ak­tu­el­ler Pop­star schon wirk­lich Mü­he ge­ben, um nicht zu „MTV Un­plug­ged“ ein­ge­la­den zu wer­den. In ih­rer Früh­zeit prä­sen­tier­te die Rei­he Rock­le­gen­den wie Ae­ros­mith, Eric Clap­ton oder Nir­va­na oh­ne Elek­tri­sche Gi­tar­re. Jetzt baut sie ver­mehrt auf Künst­ler wie Si­do, Söh­ne Mann­heims, An­dreas Ga­ba­lier, Cro, Mi­ley Cy­rus, Max Her­re oder Gen­tle­man. Der Ham­bur­ger Rap­per Sa­my De­lu­xe ist als nächs­tes dran, An­fang April wur­de sein „Un­plug­ged“-Kon­zert im Ham­bur­ger Ha­fen auf der MS „Blei­chen“ auf­ge­zeich­net. Auch oh­ne „MTV“-Eti­kett ge­hö­ren Un­plug­ged-Al­ben und -Tour­ne­en zum Stan­dard­pro­gramm des Pop­ge­schäfts.

Die Hel­den der Elek­tri­schen Gi­tar­re, Chuck Ber­ry, Mal­colm Young, B.B. King, Prin­ce, sie ster­ben lang­sam aus, Bands wie Black Sab­bath und Slay­er sa­gen Adieu. Wenn blut­jun­ge Led Zep­pe­lin-Epi­go­nen wie das US-Trio Gre­ta van Fleet die Markt­hal­le aus­ver­kau­fen, ist der Al­ters­schnitt des Pu­bli­kums dop­pelt so hoch wie der der Mu­si­ker. Die Elek­trische Gi­tar­re wird sprich­wört­lich an den Na­gel ge­hängt. Fi­nanz­ex­per­ten emp­feh­len E-Gi­tar­ren mitt­ler­wei­le – geht es noch un­rock­ba­rer? – als Wert­an­la­ge, schließ­lich kann ei­ne Gib­son oder Fen­der des rich­ti­gen Jahr­gangs so wert­voll wie ein Ein­fa­mi­li­en­haus wer­den. Die bis­lang teu­ers­te ver­stei­ger­te Gi­tar­re war ei­ne Fen­der Stra­to­cas­ter, die 2013 für 965.000,- Dol­lar ver­stei­gert wur­de: Ein ge­wis­ser Bob Dy­lan spiel­te auf ihr beim New­port Folk Fes­ti­val 1965.

 Analyse zum Stand der Dinge „E-Gitarre“ © 2018 Zeitungsgruppe Hamburg GmbH. Alle Rechte vorbehalten.

Tom
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X-ACT Music Magazine - Gründer, Erfinder, Herausgeber, Medieninhaber, Chefredakteur, Design, Logo-Creator. Sonst noch: Gitarrist, Composer, Arranger, Producer, Bandleader.